Interview mit Pflegeexpertin Maria Jung zur Anthroposophischen Pflege
Frau Jung, Sie sind seit 2015 Pflegeexpertin für Anthroposophische Pflege am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe. Was sind Ihre Aufgaben?
M.J.: Meine Hauptaufgabe sehe ich darin, die Pflegenden in Havelhöhe mit den Grundlagen der Anthroposophischen Pflege vertraut zu machen. Dazu gehört sowohl die Vermittlung einer besonderen inneren Haltung als auch die Einweisung in eine Vielzahl von pflegerisch-therapeutischen Maßnahmen. Ich berate die Pflegekräfte auf den Stationen im Rahmen von Pflegevisiten oder bei konsiliarischen Fragestellungen, insbesondere wenn es um die Anwendung bestimmter Pflegebehandlungen geht und leite sie an. Darüber hinaus bin ich konzeptionell in krankenhausweite Projekte eingebunden.
Wie sieht eine Schulung für Anthroposophische Pflege aus?
M.J.: In Havelhöhe haben wir zwei Formen der Weiterbildung. Zum einen häufiger stattfindende, kleinere Kurse, in denen ich die Pflegekräfte in bestimmten Anwendungen schule, damit sie sie auf den Stationen fachgerecht ausführen können. Im Laufe meiner langjährigen Tätigkeit in Havelhöhe habe ich darüber hinaus einen systematischen Weiterbildungskurs für Anthroposophische Pflege aufgebaut, der auf 27 Fortbildungstage angelegt ist. In diesem Grundkurs für Anthroposophische Pflege werden Hintergründe der Anthroposophie mit ihrem besonderen Menschenbild vermittelt und die pflegetherapeutischen Maßnahmen, wie zum Beispiel Rhythmische Einreibungen nach Wegman/Hauschka, Wickel, Auflagen, Waschungen oder die Zubereitung von medizinischen Tees, geübt. Damit jeder ein Gefühl für die Wirkung bekommt, üben wir viel aneinander. Die Pflegenden schulen ihre Hände und erspüren den Rhythmus, in dem z.B. ein Öl eingerieben oder eine Waschung durchgeführt wird. Die Selbsterfahrung ist mir sehr wichtig, denn sie erleichtert es, sich in die konkrete Situation der Patienten einzufühlen. Natürlich vermittle ich auch theoretische Hintergründe und wir diskutieren Fallgeschichten: In welcher Situation wäre welche Anwendung besonders hilfreich? Entscheidend ist am Ende aber immer der Bezug auf die individuelle Person und ihre Bedürfnisse.
Können Sie die spezifische Haltung Patienten gegenüber genauer erklären?
M.J.: Ich versuche immer, eine bestimmte Bewusstheit und Achtsamkeit zu vermitteln. In der anthroposophischen Pflege arbeiten wir unter anderem mit den 12 Pflegerischen Gesten, die Rolf Heine entwickelt hat. Wenn ich eine dieser Gesten, zum Beispiel die des Einhüllens oder Aufrichtens, bewusst für einen Patienten aussuche und vollziehe, bekommt meine Handlung eine andere Qualität als wenn ich sie aus Gewohnheit ausführe und nicht weiter darüber nachdenke. Oft nutzen wir gar nicht das gesamte Spektrum unserer Möglichkeiten, weil wir bestimmten Routinen folgen. Es geht aber darum, den konkreten Patienten zum Ausgangspunkt unseres Handelns zu machen, gezielt auf seine Situation einzugehen und unsere eigenen Vorlieben oder Abneigungen hintenan zu stellen. Das bedeutet, sich seine eigenen Handlungen immer wieder bewusst zu machen und sie zu hinterfragen. Das ist auch für mich ein Prozess, in dem ich immer wieder Neues lerne.
Wie können Pflegende diesen hohen Anspruch der Achtsamkeit und Bewusstheit denn im Alltag umsetzen?
M.J.: Das geht vor allem, indem man Kleinigkeiten beachtet. Bevor ich einen Patienten in seinem Zimmer aufsuche, versuche ich immer einen kurzen Moment innezuhalten und mich zu konzentrieren: Was möchte ich jetzt machen und was ist mir dabei wichtig? Diesen Moment der Empathie spürt mein Gegenüber sofort. Wichtig ist auch, eigene Stimmungen und Befindlichkeiten nicht mit ins Zimmer zu nehmen, auch wenn das nicht immer leicht ist. Und schließlich hilft natürlich die schon erwähnte Selbsterfahrung: Wenn ich zum Beispiel einmal eine Waschung am eigenen Leib erlebt habe, weiß ich, wie unangenehm es wäre, wenn jemand die Tür offen stehen ließe, um mal schnell etwas zu holen, sie einfach zuknallt oder sich laut mit der Kollegin auf dem Flur unterhält.
Welche Aufgaben haben Sie als Pflegeexpertin über Weiterbildung, Schulung und Beratung hinaus?
M.J.: Momentan bin ich konzeptionell in den Aufbau anthroposophischer Therapiemodule für bestimmte Krankheitsbilder eingebunden. Gerade haben wir solch ein Modul gemeinsam mit Ärzten und Therapeuten für Demenz erarbeitet. Den pflegerischen Teil dieser Module entwerfen wir gemeinsam mit Pflegenden des Bereichs. Wir prüfen und diskutieren, mit welchen pflegerisch-therapeutischen Anwendungen wir den Therapieprozess bestmöglich unterstützen können.
Können Sie ein Beispiel nennen?
M.J.: Viele Demenzkranke, die zu uns ins Krankenhaus kommen, leiden nicht nur unter Denk- und Konzentrationsstörungen, sondern an vielfältigen Symptomen, zum Beispiel Depressionen, Antriebsstörungen oder Unruhe. Viele haben zudem einen gestörten Tag-Nachtrhythmus. Wir begleiten die ärztlichen und therapeutischen Angebote und versuchen, mit Mitteln der Pflege und Struktur Rhythmus in den Tag zu bringen und durch Anwendungen zu stabilisieren. Morgens geben wir z.B. Rosmarin ins Waschwasser und kombinieren dies mit einer Rosmarinöl- Rückeneinreibung. Über Tag regen wir die Wärmeorganisation des Körpers an, zum Beispiel mit einem Ingwer-Nierenwickel. Der Patient kann dann wacher und konzentrierter durch den Tag gehen, wird insgesamt tatkräftiger. Zusätzlich bieten wir medizinische Tees an, die auf die Symptome der Patienten abgestimmt sind, und am Abend beschließen wir den Tag mit einem Lavendelfußbad und – bei großer Unruhe – eventuell mit einer Herzsalbenauflage.